Ameisen: der Staat ist alles
Ameisen betreiben Ackerbau und Viehzucht, sie
führen Kriege und organisieren riesige Staaten. Nur langsam entschlüsseln
Forscher ihre Geheimnisse.
Wer sagt denn, dass im Süden nichts funktioniert? Von Italien bis
Portugal erstreckt sich über rund 6.000 Kilometer ein wohlgeordneter Staat; die
Bewohner seiner miteinander verbundenen Metropolen sind nur wenige Millimeter
groß, haben unzählige Kinder und schreien sich nie an. Dass die EU mit diesem
Modell grenzüberschreitender Zusammenarbeit keine Werbung macht, liegt
vielleicht daran, dass da keine Europäer wohnen: Es sind argentinische Ameisen,
die wohl um l920 per Schiff eingewandert sind. Laurent Keller von der
Universität Lausanne hat vor zehn Jahren an der Mittelmeerküste die größte
bislang bekannte Ameisenkolonie gefunden. Er vermutet, dass dieser Superstaat
irgendwann auseinanderbrechen wird, weil die genetische Verwandtschaft der
einzelnen Volksteile mit der Zeit abnimmt. Im Moment sei aber von Streiks oder
Schuldenkrisen nichts zu sehen: „Auf einer sehr großen Fläche mit
Abermilliarden Individuen gibt es überhaupt keine Aggressivität.“ Statt sich zu
bekämpfen, pflegen die kleinen Sechsbeiner lieber ihre Brut. Ameisenforscher sind zu
beneiden! Schon wegen der ungeheuren Auswahl an Studienobjekten: über 12.500
Ameisenarten sind bekannt. Schätzungsweise 8.000 weitere sind noch zu
entdecken. Wer mitsuchen will: Von anderen Hautflüglern, etwa Wespen oder
Bienen, unterscheiden sich Ameisen durch das so genannte Stielchen, einer
kleinen Ausbuchtung zwischen Vorder- und Hinterleib, sowie durch eine Drüse,
die Antibiotika produziert. Wie Menschen schlagen sich Ameisen überall auf
der Welt durch. Manche Arten bauen meterhohe Wohntürme, andere Völker haben in
einer einzigen Eichel Platz. Wüstenameisen finden zum Eingang ihres Nests
zurück, weil sie ihre Schritte zählen können. Nicht nur in Sibirien bilden
Ameisen ein körpereigenes Frostschutzmittel. Auf Borneo gibt es sogar eine Art,
die schwimmen und tauchen kann, nämlich ausgerechnet in der Flüssigkeit der
fleischfressenden Kannenpflanze. Wenn Ameisen ihren Lebensraum nicht mögen,
krempeln sie ihn um: Die Hügel der Roten Waldameise sind Sonnenkollektoren, die
Wärmestrahlen auch der tiefstehenden Sonne einfangen; die Brut steckt perfekt
klimatisiert bis zu zwei Meter tief im Boden. Wenn man bei uns im Wald alle
Organismen einsammeln würde, wären drei Viertel der gesamten Biomasse Ameisen.
Diesen erstaunlichen Evolutionserfolg erklärt der Würzburger Myrmekologe
Bert Hölldobler mit der „eusozialen“ Lebensweise der Ameisen: Ein ganzes Volk,
das vor allem durch einen bestimmten Nestgeruch zusammengehalten wird, handelt
wie ein einziger „Superorganismus“. Die einzelnen Insekten sind dabei auf
bestimmte Aufgaben spezialisiert: Die einen sind Babysitter, die anderen
Bauarbeiterinnen oder Pförtnerinnen; Melkerinnen holen Honigtau von
Blattläusen, die als Hausvieh gehalten werden; andere wiederum versprühen
Pestizide in der staatseigenen Pilzzucht. Die Verständigung erfolgt
wahrscheinlich über Duftstoffe, so genau weiß man das allerdings noch nicht. In Monarchien und Diktaturen
werden Ameisen gerne den Untertanen als Vorbild hingestellt. Sind die Tierchen,
die bis zum 100fachen ihres eigenen Gewichts schleppen können, nicht ungeheuer
emsig? Selbstlos verzichten sie auf ihr persönliches Wohl – der Staat ist
alles! Schlaglöcher in der Ameisenstraße stopfen sie notfalls mit ihrem eigenen
Körper. Wenn ihre Brut angegriffen wird, spritzen die tapferen Winzlinge Säure
und verjagen selbst Braunbären. Arten, die wie die Rote Waldameise nur eine
Königin pro Volk haben, führen im Frühjahr regelrechte Territorialkriege:
Mehrere Tage lang greifen sich Armeen auf breiter Front an; die Soldatinnen
beißen den Feinden Beine und Fühler ob oder strecken sie zu Tode. Wohl nicht allen Anhängern
tierischer Staatsformen ist bewusst, dass Ameisenhügel meist basisdemokratische
Frauen-Wohngemeinschaften sind, in denen die Mehrheit bestimmt, was zu tun ist.
Die „Königin“ ist bei vielen Arten nur eine Eierlegemaschine, die bei Bedarf
hierhin oder dorthin geschleppt wird. Die Männchen werden bloß für die
Begattung gebraucht und gehen gleich nach dem Hochzeitsflug ein. Königinnen
können dagegen sehr alt werden – der in einem Schweizer Labor erreichte Rekord
liegt bei knapp 29 Jahren. Wie schaffen die das? Die Forscher stochern noch im
Dunkeln, denn Königinnen haben das gleiche Erbgut wie Arbeiterinnen, die meist
schon nach zwei bis drei Jahren sterben. Mit Fleiß und Harmonie ist es bei den Ameisen
auch so eine Sache. Ein Drittel der rund 150 in Mitteleuropa heimischen Arten
sind üble Sozialschmarotzer: Sie überfallen fremde Kolonien und versklaven sie.
Amazonasameisen sind so auf Raub und Kampf spezialisiert, dass sie nicht einmal
selbst fressen können, sondern sich von Sklaven füttern lassen müssen. Susanne
Foitzik von der Universität Mainz hat jedoch entdeckt, dass die Verlierer
durchaus Widerstand leisten und viel weniger Kinder großziehen, als sie es in
ihrem eigenen Nest tun würden – bis zu 60 Prozent der Sklavenhalterbrut bringen
sie einfach um. In Ökosystemen spielen Ameisen oft eine Schlüsselrolle. Eine
Kolonie Gelber Wiesenameisen zum Beispiel wälzt
pro Jahr und Hektar bis zu
sieben Tonnen Erde um, mehr als Regenwürmer. Waldameisen stehen schon seit 200
Jahren unter Schutz, weil sie nicht nur den Boden lockern und seine
Wasseraufnahme verbessern, sondern auch Aas entsorgen und Unmengen Insekten
vertilgen. Schneeglöckchen, Schöllkraut und über 130 weitere Pflanzenarten in
Europa sind darauf angewiesen, dass Ameisen ihre Samen verbreiten. Moorameisen und andere hoch
spezialisierte Arten sind vom Aussterben bedroht, weil der Mensch ihre
Lebensräume zerstört. Überdüngung, das Abholzen von Altbäumen oder die
Beseitigung von Hecken stört jedoch nicht alle Ameisen: Forscher des Naturkundemuseums
Karlsruhe haben herausgefunden, dass zwar die Vielfalt drastisch
zurückgeht – dafür vermehren sich aber anpassungsfähige Arten, wie zum Beispiel
die Argentinische, umso stärker. Wissenschaftler schätzen, dass alle Ameisen
der Welt zusammen ungefähr gleich viel wiegen wie die Menschheit. Wer besser
organisiert ist und länger auf der Erde überlebt, wird sich wohl noch zeigen.
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