Die Wolgadeutsche
1.
Am Vorabend der Deportation In der Literatur gab es bislang nur
unzureichende Informationen über das Geschehen auf dem Gebiet der
ASSR der Wolgadeutschen in der Zeit unmittelbar vor der Bekanntgabe
des Dekrets vom 28. August 1941. Ebenso waren die Begleitumstände
der Deportation nur andeutungsweise bekannt und nicht systematisch
erfaßt. In früheren Publikationen zu diesem Thema wurde darauf
hingewiesen, daß im Laufe der Nachkriegsjahre wiederholt von der
Verhaftung und Erschießung von Hunderten,5 von Tausenden, ja sogar
von Zehntausenden6 die Rede war. Ferner seien Loyalitätsprüfungen
der Bevölkerung durch die Sicherheitsorgane vorgenommen worden. Dazu
habe man sowjetische Fallschirmspringer in deutschen Uniformen über
der ASSRdWD abgesetzt. In einigen Dörfern seien auch von den
Behörden verteilte Hakenkreuzfähnchen bei Hausdurchsuchungen
gefunden worden. Führende deutsche Funktionäre und als
unzuverlässig eingestufte Dörfer seien daraufhin „umgehend
liquidiert worden“.7 Auch in der sowjetischen Presse war Ende 1983
von Fallschirmspringern in deutschen Uniformen die Rede.8 Sowohl in
westlichen Veröffentlichungen als auch in jüngsten sowjetischen
Publikationen sollen Augenzeugen darüber berichtet haben. Für alle
Publikationen zu diesem Thema gilt indes: Genannt wurden weder die
Augenzeugen, noch der Ort des Geschehens. In unserer flächendeckenden
Befragung gaben 13 von 170 Wolgadeutschen an, sie seien Augenzeugen
von Hausdurchsuchungen gewesen. Ein Interviewpartner berichtete über
Mißhandlungen. Niemand von den Befragten war Augenzeuge von
Erschießungen. Auch gerüchteweise hörte keiner davon. Im Dekret
vom 28. August 1941 (siehe Anhang 1a) wurden die Wolgadeutschen der
Kollaboration mit dem „Dritten Reich“ beschuldigt. „Tausende
und Abertausende Diversanten und Spione“ habe man versteckt. Als
Beweis dafür sollten die bereits erwähnten sowjetischen
Fallschirmspringer in deutschen Uniformen dienen. Eines der Ziele 5
J. Günther: Rußland von Innen. Konstanz 1959, S. 224. 6 A. Eissner,
[A. Bohmann]: Bevölkerungsprobleme im europäischen Osten. Bonn,
Brüssel, New York 1965, S. 252. 7 I. Fleischhauer: „Unternehmen
Barbarossa“ und die Zwangsumsiedlung der Deutschen in der UdSSR,
in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 30 (1982), S. 312. 8 H.
Wormsbecher: Nemcy v SSSR, in: Znamja, Moskva 1988, Nr. 11, S. 194.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 50/2003 15 dieser Befragung
war daher, die Orte festzustellen, an denen diese Fallschirmspringer
gesehen wurden. Ein Befragter aus Frank teilte mit, daß behauptet
worden sei, die Russen hätten unter der deutschen Bevölkerung
Provokationen durchgeführt. In Pfannenstiel (Mariental) und Pankraz
habe man russische (sowjetische) Fallschirmspringer in Naziuniformen
abgesetzt. Alte Frauen, die zu Hause gewesen seien, hätten diese
Fallschirmspringer versteckt und den zuständigen Organen nichts
gemeldet. Bis 1964 habe man das geheimgehalten. Nach 1964 hätten
sich zwei dieser russischen Fallschirmspringer gemeldet und diese
Aktion bestätigt. Bei dieser Geschichte handelt es sich um Gerüchte,
die dem Befragten aus Frank irgendwann zu Ohren kamen. Drei Befragte
aus Mariental und zwei aus dem nahen Neu-Mariental haben nichts
dergleichen berichtet. Allerdings berichtete ein Befragter aus
Neu-Mariental, daß die Sicherheitsorgane im Juli 1941 zwei Lehrer
mit Schülern, zu denen auch er gehörte, nach deutschen
Fallschirmspringern suchen ließen. Diese hätten sich angeblich in
den Wäldern und Feldern versteckt. Genaueres über das Auffinden von
Fallschirmspringern sei auch diesem Augenzeugen bis heute nicht
bekannt geworden. Ein anderer Einwohner von Frank hörte von einem
weitläufigen Verwandten, daß in Saratov nach der Deportation der
deutschen Bevölkerung eine Kommission gebildet worden sei, welche
die angeblichen „Verbrechen“ der Deutschen feststellen sollte.
Dieser Kommission seien einige Waffendepots mit alten Gewehren
gezeigt worden. Eine an dieser Kommission beteiligte Frau, von der
diese Information stammte, habe aber gemerkt, daß es sich jeweils um
dieselben Gewehre handelte. Sie hatte sich die Fabriknummern der
Gewehre notiert. Daraus schloß sie, daß diese Depots vom NKVD
selbst angelegt worden seien. Es war somit nicht möglich, die
angeblichen Vorgänge zu verifizieren. Dies schließt zwar nicht ganz
aus, daß sie nicht doch stattgefunden haben. Die Wahrscheinlichkeit
hierfür ist jedoch gering. Die Bevölkerung der Wolgarepublik blieb
nach übereinstimmenden Berichten unserer Befragten und von
Augenzeugen in der sowjetischen Presse vor und während der
Deportation ruhig
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