Die Geschichte der Umsiedlung der Wolga-Deutschen nach
Sibirien in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges
Schanna Aleksandrowna Serschanowa
Dozentin an der Sibirischen Staatlichen Technischen Universität
Region Krasnojarsk, Stadt Krasnojarsk
or mehr als zwei Jahrhunderten wurden die
Vorfahren der Rußland-Deutschen von der russischen Regierungen eingeladen, ins
Land zu kommen, um die unbewohnten Randgebiete urbar zu machen. Unter den Bedingungen
eines dichten Zusammenlebens und der inneren Selbstverwaltung bildeten sich die
Rußland-Deutschen zu einem Volk mit eigener Kultur, eigenen Sitten, Gebräuchen
und Traditionen heraus. 1941 wurden die Rußland-Deutschen aufgrund der
verleumderischen Anklage, sie würden mit den deutschen Faschisten gemeinsame
Sache machen, aus dem Wolgagebiet und anderen europäische Regionen des Landes
nach Sibirien und Kasachstan deportiert. Am Vorabend der gewaltsamen
Deportation lebten nach den in der Volkszählung enthaltenen Angaben 3962
Deutsche auf dem Territorium der Region Krasnojarsk. Die Zwangsumsiedlung der
Wolgadeutschen zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges führte zu einem jähen
Anstieg der Bevölkerung bei der deutschen Volksgruppe in der Region, und zum
November 1941 waren bereits 17307 Familien mit einer Gesamtzahl von 77359
Personen in der Region eingetroffen. Die Massendeportation förderte die
geographische Verbreitung der Deutschen – sie wurden in insgesamt 42 Bezirken
der Region untergebracht [2, 4, 5]. Es war den Rußland-Deutschen noch nicht
einmal gelungen, sich an die Gegebenheiten des sibirischen Winters zu gewöhnen,
Behausung und Arbeit zu finden, als sie auch schon, wie die gesamte übrige
arbeitsfähige Bevölkerung, in die Arbeitsarmee mobilisiert wurden. Nur alte und
kranke Menschen sowie minderjährige Kinder blieben zurück. Alle Militärpersonen
deutscher Nationalität wurden ins Hinterland abberufen und ebenfalls in die
Trudarmee geschickt, die „ihrem Wesen nach eigentlich Konzentratiionslagern
entsprach, in denen die Menschen gezwungen wurden unter Aufsicht und
Wachbegleitung zu arbeiten. All das geschah in Durchführung des Ukas des Präsidiums
des Obersten Sowjet der UdSSR vom 28. August 1941, in dem die Sowjet-Deutschen
beschuldigt wurden, daß sie mit den Faschisten unter einer Decke steckten. Im
Lager mußten sie die Tagesnorm erfüllen, was nur den ganz gesunden, kräftigen Männern
gelang. Sobald man das Arbeitssoll nicht schaffte, wurde sogleich die Eßration
gekürzt. Das kümmerliche Essen gab ihnen keine Möglichkeit, nach getaner Arbeit
wieder zu Kräften zu kommen, so daß die Überlebenschancen mit jedem Tag
geringer wurden. Die Menschen magerten zusehends ab“, - schreibt W. Disendorf
[6]. Als Beweis dafür können die Erinnerungen von Rußland-Deutschen dienen, die
am eigenen Leib alle Erschwernisse und Entbehrungen der Kriegsjahre erfahren
haben. „Meinen Mann holten sie zur Arbeitsarmee nach Reschoty. Dort mußten sie
Bäume fällen. Die Arbeit war sehr schwer, sie bekamen schlechte Verpflegung. Mein
Mann bekam Hungerödeme. Ich bin insgesamt siebenunddreißig Male zufuß zu ihm
gelaufen und habe ihm Pakete gebracht. Ich hatte immer Sachen dabei, die wir
von der Wolga mitgebracht hatten; die tauschte ich unterwegs gegen Lebensmittel
ein. Wäre ich nicht zu ihm gegangen, dann hätte Andrej (ihr Mann) wohl kaum überlebt.
Im Herbst befanden sich in Reschoty 3000 Häftlinge – alles Trudarmisten, und
zum Frühjahr waren es nur noch 600. Als ich das letzte Mal hingingen, tauschte
ich meinen einzigen noch verbliebenen Rock ein. Zusätzlich hatte ich aus der
Kolchose noch einen groben Leinensack mitgenommen; den zog ich dann anstelle
des Rockes an. Später floh Andrej, wurde aber wieder gefaßt. Ich ging zur
Miliz, um ein gutes Wort für ihn einzulegen. Ich weinte so herzzerreißend, daß
die ganze Vorderseite meines Kleides naßgeweint war“, - und als A.J.Michel
daran zurückdenkt, bricht sie erneut in Tränen aus. An die Ereignisse aus den
Kriegsjahren erinnern die Rußland-Deutschen sich stets mit Tränen in den Augen;
es ist ja auch furchtbar, sich all das wieder ins Gedächtnis zurückzurufen,
aber trotzdem darf man es niemals vergessen. In den Jahren der Sowjetmacht
vollzogen sich erhebliche Veränderungen im ethnischen Selbstbewußtsein der Rußland-Deutschen
[7]. Die weit verstreute Ansiedlung unter den Bedingungen des Sonder-Regimes
der Verbannung nahm einen negativen Einfluß auf die Anzahl sowie die
linguistischen und kulturellen Komplexe des Alltagslebens der umgesiedelten
Deutschen; die Folgen dieses Regimes sind auch heute noch zu spüren. Aufgrund
der ethnischen Deportation und des Sonderansiedler-Systems waren die Rußland_Deutschen
in ihren Rechten eingeschränkt: sie wurden unter Meldepflicht bei der
Sonder-Kommandantur gestellt, und es war ihnen verboten, sich ohne ausdrückliche
Erlaubnis ins benachbarte Dorf oder die nächste Stadt zu begeben; man zwang
sie, sich einmal im Monat registrieren zu lassen und nahm ihre Fingerabdrücke.
Für lange Zeit verloren sie jede Möglichkeit, ihre berufliche Qualifikation an
höheren Lehranstalten zu verbessern und waren mit erheblichen Schwierigkeiten
bei der Arbeitssuche konfrontiert; sie dienten nicht in der Armee, besaßen
keine Ausweise und konnten infolgedessen nicht auf legale Weise heiraten oder
ihre Kinder registrieren lassen. Mit Beginn der Repressionen war ihnen das
Verbot auferlegt worden, weiterhin ihre Muttersprache zu verwenden; außerdem
verloren die Rußland-Deutschen mit der Liquidierung der deutschen
Wolga-Republik die gesamte materielle und soziale Grundlage für ihr kulturelles
Leben: sie büßten ihre Schulen, Kirchen, Zeitungen und Verlage ein. Und das
Schlimmste war, daß ihre ganze Volksgruppe „auseinandergeworfen“ wurde.
Ethnische, wirtschaftliche, kulturelle und sogar familiäre Bindungen wurden
zerrissen. K.W: Fadejew ist der Meinung, daß die Situation sich noch dadurch
verschärfte, daß Männer und Frauen im gebärfähigen Alter für eine Dauer von
mehr als 10 Jahren aufgrund ihres unterschiedlichen Geschlechts voneinander
getrennt waren, was den Prozeß einer normalen Reproduktion des Ethnos
unterbrach und eine große Lücke zwischen den generationen entstehen ließ [3].
Erst im Dezember 1955 wurden per Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets die
Beschränkungen in der rechtlichen Lage der Deutschen und ihrer
Familienmitglieder, die sich in Sonderansiedlung befanden, abgeschafft. Aber
das Recht auf Rückkehr an die Orte, aus denen sie seinerzeit ausgesiedelt
worden waren, erhielten die Deutschen nach wie vor nicht. Und erst 1964 wurden
sämtliche Anklagen und Beschuldigungen gegen die Sowjet-Deutschen aufgehoben.
Sie wurden aus der administrativen Aufsicht entlassen. 1972 erlaubte man den
Sowjet-Deutschen, sich in anderen Bezirken des Landes niederzulassen und
dorthin zurückzukehren, wo sie vor dem Krieg gelebt hatten. Aber die ASSR der
Wolga-Deutschen
wurde nicht wiedererrichtet [3]. Gerade die
weit verstreute Ansiedlung spielte eine grundlegende und entscheidende Rolle
bei der Transformation des ethnischen Selbstbewußtseins der Rußland-Deutschen
in Sibirien; sie provozierte ihre Akklimatisierung [7], die unter anderem
dadurch gekennzeichnet ist, daß die Deutschen die russische Sprache als ihre
Muttersprache annahmen. Hatten die Deutschen bei der Umsiedlung im 19. und zu
Beginn des 20. Jahrhunderts (1. Etappe, 2. Etappe) noch dicht beieinander
gesiedelt, indem sie eine „Sprachinsel“ bildeten, so lebten die Deutschen
infoge der Zwangsdeportation im Jahre 1941 inmitten der russischsprachigen Bevölkerung.
Daher erwies sich der Einfluß der getrennten, weit verstreuten Ansiedlung und
Zersplitterung als „äußerst schädlich für den Erhalt der deutschen Sprache“
[8]. Auch das Fehlen nationaler Schulen und kultureller Einrichtungen wirkte
und wirkt sich negativ auf die sprachliche Kompetenz der eigentlich zweisprachigen
Deutschen aus. Auf diese Weise wird die Zahl der ethnischen Deutschen, die
ihren Dialekt noch beherrschen, von Jahr zu Jahr weniger. Noch 1970 meinten
58,8% der Deutschen, daß Deutsch ihre Muttersprache sei, 1979 waren es 44,6%
und 1989 nur noch 35,2% (27,4% in der Stadt und 42,8% auf dem Lande) [2].
Folglich vollzieht sich ein immer schneller werdender Wechsel der
Kommunikationssprache zugunsten des Russischen. Es ist wichtig anzumerken, daß
die überwiegende Mehrheit der ethnischen Deutschen in der Region Krasnojarsk
die deutsche Sprache nur sehr selten benutzt und dann auch nur in der familiären
Umgebung. Es ist bemerkenswert, daß die Befragten früher häufiger in ihrem
Dialekt miteinander sprachen, als in der jetzigen Zeit. So benutzten
beispielsweise früher alle Vertreter der älteren Generationen ethnischer
Deutscher innerhalb der Familie den Dialekt, heute verwenden sie die deutsche
Sprache. Wenn die Befragten der mitteren Altersgruppe in ihrer Kindheit Dialekt
sprachen, so können sie jetzt ihre Gedanken auf Deutsch nicht fließend zum
Ausdruck bringen. Der schwerwiegendste Grund dafür ist ihren Aussagen nach die
Deportation, die dazu führte, daß die Rußland-Deutschen sich plötzlich in einer
anderssprachigen Umgebung wiederfanden und es für sie keine Möglichkeit mehr
gab, in ihrem Dialekt zu kommunizieren. Bei diesem Problem spielt nicht zuletzt
der Tatbestand eine Rolle, daß die Deutschen, die auf russischem Territorium
lebten, lange Zeit als innere Feinde angesehen wurden. Sie waren den Demütigungen,
Erniedrigungen und Kränkungen der in der Mehrheit befindlichen ethnischen
Volksgruppen ausgesetzt, und Deutsch war die Sprache der Eindringlinge, was
letzendlich wiederum dazu führte, daß sie selbst den Gebrauch ihrer eigenen
Sprache einschränkten, ein Phänomen, das besonders für die Vertreter der
mittleren Altersgruppe charakteristisch ist. Das Ansehen der russichen Sprache,
die für das normale Leben im sozialen Umfeld (das Lernen in der Schule, den
Dienst in der Armee, die weiteren beruflichen Tätigkeiten) unabdingbar ist, und
auch Mischehen – das sind Gründe, die auf eine Bevorzugung der russischen
Sprache gegenüber deutschen Dialekten beeinflussen [1]. Unter der Einwirkung
der russischen Kultur vollzogen sich Veränderungen nicht nur in Bezug auf die
Sprache der Rußland-Deutschen, sondern auch im Alltag, bei den Sitten, Gebräuchen
und Traditionen. So begehen beispielsweise die ethnischen Deutschen außer
deutschen Fest- tagen auch die russischen Feiertage; die deutschen Hausfrauen
haben gelernt, wie man Kohlsuppe und Pelmeni kocht und wie Blini gebacken
werden. Schmidt merkt an, daß gerade in der Küche der Rußland-Deutschen viel
mehr Entlehnungen vorgenommen wurden, als in anderen Bereichen der Kultur und
des Alltags [9]. Das gegenseitige Vordringen der Kultur kann man auch bei den
Bestattungszemeronien feststellen. Und so kam es, als Resultat eines lange währenden
Kontaktes zwischen dem deutschen und russischen Ethnos, auf dem Territorium der
Region Krasnojarsk nicht nur zu einer Zweisprachigkeit, sondern auch zu einem
Biokulturalismus der ethnischen Deutschen. Die Ausmaße der Asiimilierung sind
riesig, und in der heutigen Zeit ist es kompliziert, eine klare Aussage darüber
zu treffen, ob das deutsche Volk als Ethnos mit seiner ganzen Kultur, seinen
Traditionen, Sitten, Gebräuchen und seiner Sprache erhalten geblieben ist. Der
jähe Anstieg der Eheschließungen unter den verschiedenen Volksgruppen, die Änderungen
der Nachnamen, der Dokumente, die über eine Person Auskunft geben, sowie das
Bestreben zu einem Wechsel der Staatsangehörigkeit sprechen von einem
hinreichend erfolgreichen Assimilationsprozeß. Die rechtlichen Einschränkungen,
die seinerzeit für die Rußland-Deutschen festgesetzt wurden, haben ihre
Motivation zu einem Wechsel der Nationalität, zum Verzicht auf ihre eigene
Sprache, kulturelle Normen und Werte noch verstärkt. Aber dennoch bemühten und
bemühen sich die Rußland-Deutschen der älteren Generation ihre Kultur und ihre
Sprache beizubehalten und sie an die nächsten Generationen ethnischer Deutscher
weiterzuvermitteln. Nichtsdestoweniger darf man niemals der Meinung von A.A.
Schadt zustimmen, daß „das Leben unter den Bedingungen der ethnischen
Verbannung, der Druck der fremdkulturellen Werte von unten sowie die von oben
aufgezwungenen ideologischen Richtlinien zu einer praktisch vollständigen
Transformierung des ethnischen Selbstbewußtseins bei den Rußland-Deutschen führte“
[7]. Infolgedessen lassen sich Aussagen über die Beibehaltung und Wahrung der
Sitten und Gebräuche, der Traditionen und der Sprache bei den Deutschen in der
Region Krasnojarsk nur auf individueller / persönlicher Ebene treffen.
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