25
Jahre Mauerfall:
Warum Jakob Zahn jahrzehntelang
über sein Schicksal schwieg
„Ich schreibe diese Zeilen, damit meine
Kinder und Enkelkinder nachlesen können, welche Zeiten es gab und was ihr Vater
bzw. Opa erleben musste und durchzustehen hatte. Sie sollen erkennen, zu
welchen Unmenschlichkeiten manche Menschen imstande sind.“
Jakob Zahn Rote Armee 1940
Dazwischen
liegen 74 Jahre:
Jakob Zahn als Rotarmist und heute.
Jakob Zahn als Rotarmist und heute.
Diese
Sätze schrieb Jakob Zahn vor knapp 25 Jahren. Sie sind die Einleitung seiner
Lebenserinnerungen, zusammengetragen auf mehreren Dutzend DIN-A-4-Seiten, geordnet
in zwei Heftern. Sie offenbaren eine sehr bewegte, zum Teil auch recht
dramatische Geschichte. Und ein großes Geheimnis, das er viele Jahrzehnte lang
selbst vor seiner eigenen Familie verbarg. Jakob Zahn ist heute 96 Jahre alt.
Er hört nicht mehr so gut, auch seine Erinnerung lässt ihn manchmal im Stich,
dann hilft sein Sohn Reinhold aus. Zahn ist Russlanddeutscher. Aufgewachsen in
der damaligen Wolgadeutschen Republik in der Sowjetunion, wurde er 1940 zur
Roten Armee eingezogen. Der Überfall Deutschlands 1941 fügte der Sowjetarmee
riesige Verluste an Menschenleben zu. Um die Ausrüstung und Kampfmoral der
Truppe war es sehr schlecht bestellt, erinnert sich Jakob Zahn. Für ihn kam
noch hinzu, dass er Deutscher ist und seine Volksgruppe schon länger unter
Stalins Repressalien zu leiden hatte. Schließlich setzte er sich gemeinsam mit
drei ebenfalls deutschen Kameraden ab und wurde von Wehrmachtssoldaten
aufgegriffen. So wechselte Jakob Zahn die Fronten. Seit dem Zeitpunkt war er
als Dolmetscher, Krad-Melder und in der Küche tätig. Die einheimische
Bevölkerung, so erzählt er, habe er beim Feldzug der Deutschen immer gut
behandelt; die Rassenideologie war ihm fremd. „Ich habe die Menschen immer als
Menschen betrachtet.“ Nach Kriegsende wurde er auf dem Weg von Thüringen nach
Hessen von der Roten Armee gefangen genommen – was ihn in eine
lebensgefährliche Lage brachte: Niemand durfte etwas von seiner Vergangenheit
und seiner Desertion wissen. „Dann wäre ich sofort erschossen worden.“ Doch das
zu verbergen, war schwierig; dass er Russisch sprach, machte ihn verdächtig.
„Die sagten sofort: ,Du bist ein Spion’“, erinnert sich Zahn. Es folgten
Gefängnis, nächtliche Verhöre, Schläge. Sein Überlaufen von der Roten Armee zur
Wehrmacht bekam niemand heraus, trotzdem wurde der Russlanddeutsche verurteilt:
zehn Jahre Haft. Seine Berichte über diese Zeit sind ein Zeugnis der
katastrophalen Bedingungen, unter denen die Häftlinge leben mussten: Hunger,
Kälte, Läuse, schwere Arbeit, Schikanen, Prügel. Nach fünf Jahren, die er unter
anderem in Bautzen und Sachsenhausen verbrachte, kam Jakob Zahn frei. Doch
wohin sollte er gehen? In die alte Heimat konnte er nicht, in Deutschland hatte
er keine Angehörigen. Schließlich landete er im thüringischen Gotha, weil er
dort einen guten Freund aus seiner Zeit bei der Wehrmacht hatte. Hier
verbrachte Zahn den Großteil seines Lebens: Er lernte einen Beruf, studierte,
heiratete und wurde Vater von drei Kindern. Doch selbst seiner Familie traute
er sich nicht, von seinem Schicksal zu erzählen. Zu groß war seine Angst, als
Deserteur in ein sowjetisches Lager geschickt oder sogar zum Tode verurteilt zu
werden. „Er hat nie viel aus seiner Vergangenheit berichtet“, sagt sein Sohn
Reinhold, bei dem er heute in Berlin wohnt. Jahrzehntelang lebte er mit seinem
Geheimnis. Erst die in den späten Achtzigerjahren in der Sowjetunion beginnende
Perestroika und die Wende in der DDR brachen das Eis. Eine große Last fiel von
ihm ab: Jakob Zahn konnte endlich seiner Familie berichten, was ihm widerfahren
war. Und nicht nur das: Er schrieb seine Geschichte auch auf. „Er hat seinem
Herzen Luft gemacht“, sagt sein Sohn. Anfang der Neunzigerjahre siedelten
schließlich viele Verwandte aus Russland nach Deutschland über. Auch in Bremen
leben einige von ihnen. Jakob Zahn, so könnte es man fast sagen, hat im Alter
seine Familie wiedergefunden.
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