In der letzten Zeit wird diese
Frage in der einen oder anderen Form in den Massenmedien behandelt. Und ich bin
fest davon überzeugt, daß von der Antwort auf diese Frage in vieler Hinsicht
die volle Rehabilitierung sowohl der Wolgadeutschen, als auch aller anderen
Bürger deutscher Nationalität unseres Landes abhängt. Um auf den Grund dieser
Frage zu kommen, ist ein Exkurs in die Geschichte der Wolgadeutschen nötig. In
den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts waren an der unteren Wolga, nämlich in den
Kreisen Kamyschin, Wolsk und Saratow, über 28 000 ausländische Kolonisten,
vorwiegend Auswanderer aus deutschen Landen sowie Schweizer, Franzosen und
Holländer ansässig. Durch eine besondere Jurisdiktion, die vom Vormundschaftskontor
für ausländische Kolonisten in Saratow gesichert wurde, mischten sie sich bis
1871 nicht mit der russischen und ukrainischen Bevölkerung. Das erklärt sich
auch aus sprachlichen, religiösen und anderen Unterschieden. Den Angaben der
Volkszählung von 1897 zufolge betrug die Zahl der Deutschen hier 395 800
Menschen und vor dem Beginn des ersten Wettkrieges schon 645 000. Im Kreis
Kamyschin, Gouvernement Saratow, waren 48,2 Prozent der Bevölkerung Deutsche,
im Kreis Nowy Usen 37,7 Prozent und im Kreis Nikolajewsk, Gouvernement Samara,
18,7 Prozent. Betrachtet man die Dynamik des Zuwachses der deutschen
Bevölkerung unseres Landes in den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts,
sieht man, daß in dieser Zeit im südlichen Rußland, einschließlich des
Jekaterinoslawer, Chersoner und Taurischen Gouvernements ihre Zahl von 377 800
bis auf 349 400 gesunken ist. Berücksichtigt man die Tatsache, daß Tausende
Wolgadeutsche später nach Sibirien, ins Dongebiet, den Nordkaukasus sowie in
die Industriezentren des Wolgagebiets weiterzogen, betrug ihre Zahl damals
nicht weniger, als die Hälfte der deutschen Bevölkerung in den Grenzen, die
nach dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg gesetzt wurden. Ein stürmischer
Zuwachs der Wolgadeutschen Bevölkerung (trotz des fehlenden Zustromes der
Deutschen aus dem Ausland und der Massenübersiedlung in andere Gebiete des
Landes sowie in die USA, Kanada und die Staaten Lateinamerikas) ist auf eine
hohe Geburtsrate sowie, und das in erster Linie, auf die schwache Assimilation
als Folge der Isoliertheit der Deutschen zurückzuführen. Sie ließen sich unter
ganz neuen geographischen und klimatischen Bedingungen nieder, lebten unter
Russen, Ukrainern, Kasachen und anderen Völkern, entwickelten in ihrer Urheimat
unbekannte Landwirtschafts- und Industriezweige. Darum fühlten sich die
Wolgadeutschen Kolonisten immer mehr als ein neues ethnisches Gebilde mit
einzigartigen Kultur, Volkskunst und Literatur und unterschieden sich deutlich
von den Deutschen in der Metropole. Davon zeugen viele Fakten. Der sowjetische
Sprachwissenschaftler A. I. Domaschnew, der linguistische Besonderheiten der
Sprache deutscher Völkerschaften in verschiedenen Ländern erforschte, schrieb
über das ethnische Bewußtsein der in den 70er bis 80er Jahren des 19.
Jahrhunderts nach Argentinien ausgewanderten Wolgadeutschen und hob dabei
hervor, daß “diese Tatsache in ihrem Bewußtsein und Erinnerungen, in der
Sprache, in Sitten und Gebräuchen eine tiefe Spur hinterlassen hat". Mehr
noch, wenn sie über ihre Heimat sprechen, meinen sie nicht Deutschland, sondern
Rußland. Ähnliche Beispiele in bezug auf die in die USA ausgewanderten
Wolgadeutschen werden auch in den Arbeiten von A. Afanasjew und N.Tudorjanu
genannt. In den USA gibt es sogar eine Organisation der Amerikaner
wolgadeutscher Abstammung mit eigenem Kulturzentrum. Die Mitglieder der
Organisation erforschen die Geschichte, Kultur und die Volkskunst der
Wolgadeutschen. Nicht wenig interessante Beweise enthält die Ende des vorigen
Jahrhunderts geschriebene Forschungsarbeit über die Übersiedlerkolonien im
Kreis Omsk, nämlich über die Einwohner des im Jahre 1894 gegründeten Dorfes
Alexandrowka: “..Die Einwohner von Alexandrowka sind an der Wolga geboren und
hier auch groß geworden. Darum sehnen sie sich nach irgendeinem Fluß. Das mag
als eine Eigentümlichkeit oder eine Ambition verstanden werden, aber ich habe
auch gehört, daß das Fehlen von Wasser die Psyche der Menschen so stark
unterdrücken kann, daß sie apathisch werden und jede Lust an der Arbeit
verlieren." Als man den Sonderstatus der deutschen Kolonisten (wie
übrigens auch aller ausländischen Übersiedler anderer Nationalitäten) im Jahre
1871 aufgehoben und sie in “Ansiedler-Eigentümer” oder
“Ansiedler-Grundbesitzer” umbenannt hatte, schickten die Wolgakolonisten (im
Unterschied zu den Kolonisten in Südrußland) einen Brief an das
Vormundschaftskontor, in dem sie baten, ihnen die Bildung eines
Selbstverwaltungsorgans, d. h. einer bestimmten Autonomie, zu gestatten. Unter
den damaligen Bedingungen war eine solche Autonomie natürlich nicht möglich,
darum blieb diese Bitte ohne Antwort. Aber hinter diesem Brief verbarg sich die
Erkenntnis einer bestimmten ökonomischen, politischen und kulturellen Ganzheit.
In der Landwirtschaft der Kolonien war die Produktion von Getreide und Tabak
besonders hoch entwickelt. Zum großen Zentrum des Getreidehandels wurde die
Kolonie Katharinenstadt (Baronsk), die Ende des 19. Jahrhunderts mehr als 8 000
Einwohner zählte. Im Jahre 1897 wurden von dort 2 226 000 Pud Getreide
hauptsächlich nach Petersburg und dem Ausland geliefert. Zu Zentren der
industriellen Entwicklung wurden Saratow, Wolsk und Kamyschin, d.h. das Kapital
der deutschen Unternehmer wurde hauptsächlich in die Betriebe dieser Städte
investiert. Die deutschen Siedlungen des Kreises Kamyschin waren Zentren der
Produktion von Sarpinka (eines Baumwollgewebes). Ursprünglich wurde dieses
Gewerbe Ende des 18. Jahrhunderts in Sarepta (bei Zarizyn, heute ein
Stadtbezirk von Wolgograd), ab Anfang des 19. Jahrhunderts in vielen anderen
Siedlungen des Wolgagebiets betrieben. Zum Zentrum der Sarpinka-Produktion
wurde der Sosnowkaer Amtsbezirk, zu dem die Dörfer Sosnowka (Schilling), Goly
Karamysch (Balzer) und noch elf weitere deutsche Siedlungen gehörten. Vor dem
Krieg waren in diesem Gewerbe fast 30 000 Menschen tätig. Die Jahresproduktion
betrug ca. 20 Millionen Meter Gewebe. Das Gesamtvolumen der Industrieproduktion
auf dem Territorium der ASSRdWD vor der Revolution belief sich auf 20 795 000
Rubel. Schon in den 20er Jahren wurde in der ASSR der Wolgadeutschen der
Sarpinka-Gewerbebezirk Goly Karamysch gebildet. Die Zahl der Beschäftigten in
dieser Produktion betrug im Jahre 1926 17 000 Menschen und das Produktionsvolumen
8,3 Millionen Rubel. Dieser Exkurs in die Geschichte der wirtschaftlichen
Entwicklung der Wolgakolonien veranschaulicht ein ziemlich hohes Niveau der
Produktionsverhältnisse, des Entstehens der Klassenstruktur der Gesellschaft,
der industriellen Produktion und der Genossenschaften. Die Revolution von
1905—07 hat die kulturelle und gesellschaftspolitische Entwicklung aller Völker
Rußlands beeinflußt. Auch die Deutschen erlebten einen starken Aufschwung des
nationalen Selbstbewußtseins. Es wurden zahlreiche gesellschaftliche
Organisationen - Lehrerverein, Verein der Antiquitätensammler, Volkskunstverein
usw. - gegründet. Besonders aktiv setzten sich für die Vereinigung der
Kolonisten, den Schutz ihrer nationalen Eigenart und der Muttersprache die
deutsche Intelligenz, die Lehrkräfte ein, die sich um die linke “Saratower deutsche
Zeitung" gruppierten. Ihre Tätigkeit aktivierte sich während der
Vorbereitungen auf die Feierlichkeiten anläßlich des 150. Jahrestages der
deutschen Ansiedlung an der Wolga, die für den Herbst 1914 geplant waren, aber
wegen des in diesem Jahr ausgebrochenen Weltkrieges nicht stattfanden. In den
Jahren 1913-14 erschienen fast in jeder Ausgabe der erwähnten Zeitung
Veröffentlichungen, die den kommenden Feierlichkeiten gewidmet waren. Sie
sollten zum Nationalfeiertag werden.