воскресенье, 25 января 2015 г.

Wolgadeutschen

 Die Wolgadeutschen: nationale Minderheit oder Nation?

In der letzten Zeit wird diese Frage in der einen oder anderen Form in den Massenmedien behandelt. Und ich bin fest davon überzeugt, daß von der Antwort auf diese Frage in vieler Hinsicht die volle Rehabilitierung sowohl der Wolgadeutschen, als auch aller anderen Bürger deutscher Nationalität unseres Landes abhängt. Um auf den Grund dieser Frage zu kommen, ist ein Exkurs in die Geschichte der Wolgadeutschen nötig. In den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts waren an der unteren Wolga, nämlich in den Kreisen Kamyschin, Wolsk und Saratow, über 28 000 ausländische Kolonisten, vorwiegend Auswanderer aus deutschen Landen sowie Schweizer, Franzosen und Holländer ansässig. Durch eine besondere Jurisdiktion, die vom Vormundschaftskontor für ausländische Kolonisten in Saratow gesichert wurde, mischten sie sich bis 1871 nicht mit der russischen und ukrainischen Bevölkerung. Das erklärt sich auch aus sprachlichen, religiösen und anderen Unterschieden. Den Angaben der Volkszählung von 1897 zufolge betrug die Zahl der Deutschen hier 395 800 Menschen und vor dem Beginn des ersten Wettkrieges schon 645 000. Im Kreis Kamyschin, Gouvernement Saratow, waren 48,2 Prozent der Bevölkerung Deutsche, im Kreis Nowy Usen 37,7 Prozent und im Kreis Nikolajewsk, Gouvernement Samara, 18,7 Prozent. Betrachtet man die Dynamik des Zuwachses der deutschen Bevölkerung unseres Landes in den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts, sieht man, daß in dieser Zeit im südlichen Rußland, einschließlich des Jekaterinoslawer, Chersoner und Taurischen Gouvernements ihre Zahl von 377 800 bis auf 349 400 gesunken ist. Berücksichtigt man die Tatsache, daß Tausende Wolgadeutsche später nach Sibirien, ins Dongebiet, den Nordkaukasus sowie in die Industriezentren des Wolgagebiets weiterzogen, betrug ihre Zahl damals nicht weniger, als die Hälfte der deutschen Bevölkerung in den Grenzen, die nach dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg gesetzt wurden. Ein stürmischer Zuwachs der Wolgadeutschen Bevölkerung (trotz des fehlenden Zustromes der Deutschen aus dem Ausland und der Massenübersiedlung in andere Gebiete des Landes sowie in die USA, Kanada und die Staaten Lateinamerikas) ist auf eine hohe Geburtsrate sowie, und das in erster Linie, auf die schwache Assimilation als Folge der Isoliertheit der Deutschen zurückzuführen. Sie ließen sich unter ganz neuen geographischen und klimatischen Bedingungen nieder, lebten unter Russen, Ukrainern, Kasachen und anderen Völkern, entwickelten in ihrer Urheimat unbekannte Landwirtschafts- und Industriezweige. Darum fühlten sich die Wolgadeutschen Kolonisten immer mehr als ein neues ethnisches Gebilde mit einzigartigen Kultur, Volkskunst und Literatur und unterschieden sich deutlich von den Deutschen in der Metropole. Davon zeugen viele Fakten. Der sowjetische Sprachwissenschaftler A. I. Domaschnew, der linguistische Besonderheiten der Sprache deutscher Völkerschaften in verschiedenen Ländern erforschte, schrieb über das ethnische Bewußtsein der in den 70er bis 80er Jahren des 19. Jahrhunderts nach Argentinien ausgewanderten Wolgadeutschen und hob dabei hervor, daß “diese Tatsache in ihrem Bewußtsein und Erinnerungen, in der Sprache, in Sitten und Gebräuchen eine tiefe Spur hinterlassen hat". Mehr noch, wenn sie über ihre Heimat sprechen, meinen sie nicht Deutschland, sondern Rußland. Ähnliche Beispiele in bezug auf die in die USA ausgewanderten Wolgadeutschen werden auch in den Arbeiten von A. Afanasjew und N.Tudorjanu genannt. In den USA gibt es sogar eine Organisation der Amerikaner wolgadeutscher Abstammung mit eigenem Kulturzentrum. Die Mitglieder der Organisation erforschen die Geschichte, Kultur und die Volkskunst der Wolgadeutschen. Nicht wenig interessante Beweise enthält die Ende des vorigen Jahrhunderts geschriebene Forschungsarbeit über die Übersiedlerkolonien im Kreis Omsk, nämlich über die Einwohner des im Jahre 1894 gegründeten Dorfes Alexandrowka: “..Die Einwohner von Alexandrowka sind an der Wolga geboren und hier auch groß geworden. Darum sehnen sie sich nach irgendeinem Fluß. Das mag als eine Eigentümlichkeit oder eine Ambition verstanden werden, aber ich habe auch gehört, daß das Fehlen von Wasser die Psyche der Menschen so stark unterdrücken kann, daß sie apathisch werden und jede Lust an der Arbeit verlieren." Als man den Sonderstatus der deutschen Kolonisten (wie übrigens auch aller ausländischen Übersiedler anderer Nationalitäten) im Jahre 1871 aufgehoben und sie in “Ansiedler-Eigentümer” oder “Ansiedler-Grundbesitzer” umbenannt hatte, schickten die Wolgakolonisten (im Unterschied zu den Kolonisten in Südrußland) einen Brief an das Vormundschaftskontor, in dem sie baten, ihnen die Bildung eines Selbstverwaltungsorgans, d. h. einer bestimmten Autonomie, zu gestatten. Unter den damaligen Bedingungen war eine solche Autonomie natürlich nicht möglich, darum blieb diese Bitte ohne Antwort. Aber hinter diesem Brief verbarg sich die Erkenntnis einer bestimmten ökonomischen, politischen und kulturellen Ganzheit. In der Landwirtschaft der Kolonien war die Produktion von Getreide und Tabak besonders hoch entwickelt. Zum großen Zentrum des Getreidehandels wurde die Kolonie Katharinenstadt (Baronsk), die Ende des 19. Jahrhunderts mehr als 8 000 Einwohner zählte. Im Jahre 1897 wurden von dort 2 226 000 Pud Getreide hauptsächlich nach Petersburg und dem Ausland geliefert. Zu Zentren der industriellen Entwicklung wurden Saratow, Wolsk und Kamyschin, d.h. das Kapital der deutschen Unternehmer wurde hauptsächlich in die Betriebe dieser Städte investiert. Die deutschen Siedlungen des Kreises Kamyschin waren Zentren der Produktion von Sarpinka (eines Baumwollgewebes). Ursprünglich wurde dieses Gewerbe Ende des 18. Jahrhunderts in Sarepta (bei Zarizyn, heute ein Stadtbezirk von Wolgograd), ab Anfang des 19. Jahrhunderts in vielen anderen Siedlungen des Wolgagebiets betrieben. Zum Zentrum der Sarpinka-Produktion wurde der Sosnowkaer Amtsbezirk, zu dem die Dörfer Sosnowka (Schilling), Goly Karamysch (Balzer) und noch elf weitere deutsche Siedlungen gehörten. Vor dem Krieg waren in diesem Gewerbe fast 30 000 Menschen tätig. Die Jahresproduktion betrug ca. 20 Millionen Meter Gewebe. Das Gesamtvolumen der Industrieproduktion auf dem Territorium der ASSRdWD vor der Revolution belief sich auf 20 795 000 Rubel. Schon in den 20er Jahren wurde in der ASSR der Wolgadeutschen der Sarpinka-Gewerbebezirk Goly Karamysch gebildet. Die Zahl der Beschäftigten in dieser Produktion betrug im Jahre 1926 17 000 Menschen und das Produktionsvolumen 8,3 Millionen Rubel. Dieser Exkurs in die Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung der Wolgakolonien veranschaulicht ein ziemlich hohes Niveau der Produktionsverhältnisse, des Entstehens der Klassenstruktur der Gesellschaft, der industriellen Produktion und der Genossenschaften. Die Revolution von 1905—07 hat die kulturelle und gesellschaftspolitische Entwicklung aller Völker Rußlands beeinflußt. Auch die Deutschen erlebten einen starken Aufschwung des nationalen Selbstbewußtseins. Es wurden zahlreiche gesellschaftliche Organisationen - Lehrerverein, Verein der Antiquitätensammler, Volkskunstverein usw. - gegründet. Besonders aktiv setzten sich für die Vereinigung der Kolonisten, den Schutz ihrer nationalen Eigenart und der Muttersprache die deutsche Intelligenz, die Lehrkräfte ein, die sich um die linke “Saratower deutsche Zeitung" gruppierten. Ihre Tätigkeit aktivierte sich während der Vorbereitungen auf die Feierlichkeiten anläßlich des 150. Jahrestages der deutschen Ansiedlung an der Wolga, die für den Herbst 1914 geplant waren, aber wegen des in diesem Jahr ausgebrochenen Weltkrieges nicht stattfanden. In den Jahren 1913-14 erschienen fast in jeder Ausgabe der erwähnten Zeitung Veröffentlichungen, die den kommenden Feierlichkeiten gewidmet waren. Sie sollten zum Nationalfeiertag werden.
Um diese Zeit entwickelt sich auch das System der Lehranstalten. Im Jahre 1917 gab es in insgesamt 200 Kolonistensiedlungen rund 165 Landschulen. Hinzu kamen noch private und kirchliche Gemeindeschulen. In Katharinenstadt und Grimm gab es Lehrerseminare, wo Lehrkräfte für diese Schulen ausgebildet wurden. Im August 1907 fand die erste Lehrerkonferenz des Wolgagebiets statt, die umfassende Pläne der Entwicklung der nationalen Schulen, der Herausgabe der Lehrbücher usw. ausarbeitete. Für die Propaganda der Agrarwissenschaften erschien seit Januar 1909 die Zeitschrift “Unser Landwirt" als eine spezielle Beilage zur “Saratower deutschen Zeitung". Die Zeitschrift informierte die Bevölkerung über modernste Methoden der Vieh-, Gemüse- und Bienenzucht. Ab Januar 1911 erschien noch eine Beilage unter dem Titel “Hausfreund", ein Literaturblatt, in dem Erzählungen, Humoresken und Feuilletons über den Alltag der Kolonisten veröffentlicht wurden. Zu den Autoren des Blattes gehörten viele Vertreter der nationalen Intelligenz, darunter August Lonsinger, ein bekannter Schriftsteller, der in seinen Werken das alltägliche Leben der Deutschen beschrieb. Darüber hinaus wurden zahlreiche religiöse Zeitungen und Zeitschriften, Bücher, Kalender und historische Forschungsarbeiten herausgegeben. All diese Aufklärungsmaßnahmen übten auf die deutsche Bevölkerung einen großen Einfluß aus. Es sei dazu vermerkt, daß fast 80 Prozent der Deutschen lesen und schreiben konnten. Betrachtet man die erwähnten Tatsachen, kommt man zu der Schlußfolgerung, daß es damals alle Voraussetzungen für das Entstehen einer neuen, nämlich sowjetdeutschen Nation, gab: Die Deutschen lebten in einer Gegend, hatten ein ziemlich entwickeltes Wirtschaftsystem, sowie ihre eigene Mentalität, wodurch sie sich von den Deutschen in der Metropole unterschieden. Die Weltgeschichte kennt viele Beispiele des Entstehens einer neuen Nation durch Übersiedler (sogenannte Übersiedlernationen). An dieser Stelle erinnert sich der aufmerksame Leser an die Genesis der Nord- und Südamerikaner, Australier und Südafrikaner. Die Geschichte der Wolgadeutschen ähnelt stark dem Entstehen der Frankokanadier. Die Frankokanadier sind Nachkommen einer Gruppe französischer Kolonisten, die sich Ende des 17. Jahrhunderts am St. Lawrence-Strom niederließen. Anfangs waren es nur ca. 12 000 Kolonisten. Im Jahre 1763 (als diese Gegend von den Engländern erobert wurde) zählte die französische Bevölkerung der Kolonie schon 1 600 000 Menschen. (1) Solch eine rapide Bevölkerungszunahme war ausschließlich auf eine sehr hohe Geburtsrate zurückzuführen. Heute beläuft sich die Zahl der Frankokanadier auf 8,7 Millionen, 6,7 Millionen davon leben in Quebec und ca. 2 Millionen in den USA. Die Frankokanadier sind offiziell als Nation mit eigenem politischen Status auf staatlicher Ebene anerkannt. Sie haben eine ausgeprägte kanadische Mentalität. Ihre Mundart hat viele Unterschiede von der Sprache der französischen Metropole (enthält sehr viele Neuprägungen aus dem Englischen und den indianischen Sprachen sowie zahlreiche Realien aus dem kanadischen Alttag). Da auch die Sowjetdeutschen als ein einzigartiges Volk und eine künftige Nation galten, verabschiedete der Rat der Volkskommissare am 19. Oktober 1918 das “Dekret über die Autonomie des Gebiets der Wolgadeutschen". Auf dieses Dekret hin wurde die Arbeitskommune (das autonome Gebiet) der Wolgadeutschen gegründet, die Anfang 1924 zur Autonomen Republik der Wolgadeutschen wurde. Es sei hier auch erwähnt, daß in der Entschließung des X. Parteitages der RKP (B) im Jahre 1921 “Über die nächsten Aufgaben der Partei in der nationalen Frage" die Wolgadeutschen ebenfalls als ein souveränes Volk Rußlands bezeichnet wurden, das alle Rechte auf eine freie nationale Entwicklung und Schaffung eigener Staatlichkeit hat: “Die Bevölkerungszahl der RSFSR und der mit ihr verbundenen unabhängigen sowjetischen Republiken beträgt fast 140 Millionen, fast 65 Millionen davon sind Ukrainer, Belorussen, Kirgisen, Usbeken, Turkmenen, Tadshiken, Aserbaidshaner, Wolgabulgaren, Krimtataren, Baschkiren, Armenier, Tschetschenen, Kabardiner, Osseten, Tscherkessen, Inguschen, Karatschajer, Balkaren, Kalmyken, Karelier, Awaren, Darginer, Küriner, Kumyken, Mari, Tschuwaschen, Wolgadeutsche, Burjaten, Jakuten u. a. Die Zarenpolitik in bezug auf diese Völker bestand darin, die Anfänge jeder Staatlichkeit zu vernichten, ihre Kultur und Sprachen zu verstümmeln, sie in Unwissenheit zu halten und letzten Endes zu russifizieren. Die Ergebnisse dieser Politik sind die Unentwickeltheit und politische Rückständigkeit dieser Völker." Betrachtet man diese Völkerliste objektiv, kommt man zum Schluß, daß die Sowjetdeutschen, verglichen mit allen anderen Nationalitäten unseres Landes, die gleichen Möglichkeiten zur Bildung einer eigenen Nation hatten. Zwar enthält diese Liste viele ökonomisch entwickeltere Völker mit großen Kultur-, Literatur- und Kunsttraditionen, nämlich Ukrainer, Armenier, Usbeken, Tadshiken u. a. Es gab zu jener Zeit auch Völker, die auf der feudalen Entwicklungsstufe standen, keine Industrie hatten, in die Marktverhältnisse nicht einbezogen, fast völlig Analphabeten und ohne eigene Schriftsprache waren. Trotz alledem wurde auch ihnen das Recht auf die Staatlichkeit sowie auf die freie kulturelle und ökonomische Entwicklung entsprechend ihren Interessen und der nationalen Eigenart zuerkannt. Dabei hatten manche Völker weder Schriftsprache noch ein einheitliches Wirtschaftssystem und Territorium. Darum haben die Behauptungen, daß die ASSRdWD von einer “nationalen Minderheit gegründet wurde, offensichtlich keinen Grund: Weder in Parteidokumenten noch in der wissenschaftlicher Literatur der 20er und 30er Jahre werden die Wolgadeutschen als eine “nationale Minderheit" genannt. Den Angaben der Volkszählung von 1926 zufolge, betrug die Zahl der Deutschen in der ASSRdWD 66,4 Prozent der Bevölkerung. Dieselbe Volkszählung zeigt, daß der Anteil der städtischen Bevölkerung der Autonomen Republik (12,84 Prozent) kleiner als insgesamt in der UdSSR, aber größer als in vielen nationalen Gebilden war (8,63 Prozent in der Kasachischen ASSR, 11,3 in der Tatarischen ASSR, 11,38 Prozent in der Tschuwaschischen ASSR usw.). Wie bekannt, lebten zu jener Zeit die meisten Ansässigen auf dem Lande, und in den Städten ließen sich vorwiegend Vertreter anderer Nationalitäten (Russen, Juden usw.) nieder. In der Deutschen Republik betrug die Zahl der Städter deutscher Nationalität 45,7 Prozent (Russen - 34,2 Prozent, Ukrainer - 18,47 Prozent). Dabei belief sich der Anteil der Einheimischen in den Städten Belorußlands auf 39,65 Prozent, Turkmeniens — auf 7,5 Prozent, Tatariens - auf 22,75 Prozent, Kirgisiens - auf 4,6 Prozent usw. Die Zahl des Fabrikproletariats in der ASSRdWD betrug 3 486 Menschen, mehr als die Hälfte davon waren Deutsche. Nur in fünf Unionsrepubliken, nämlich in Armenien, Qrusien, Belorußland, der Ukraine und Tadshikistan, machten die Einheimischen über die Hälfte der Fabrikarbeiter aus. Dazu muß man sagen, daß es in Tadshikistan zu jener Zeit überhaupt nur 112 Fabrikarbeiter gab, von denen 81 Tadshiken waren. In einem kurzen Zeitungsartikel kann man natürlich bei
weitem nicht alle Argumente anführen, die eindeutig zeigen, daß die Wolgadeutschen keine “nationale Minderheit", sondern eine Nation mit eigener Geschichte, nationalen Traditionen und Gebräuchen waren. Meiner Ansicht nach ist heute viel wichtiger, all diese Traditionen, Sitten und Sprache wiederzubeleben.

                                                            Viktor Krieger, Dozent der Polytechnischen

                                                                                                 
                                                                                                               Hochschule, Dshambul

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