среда, 12 ноября 2014 г.

Schicksal

25 Jahre Mauerfall: 
Warum Jakob Zahn jahrzehntelang 
über sein Schicksal schwieg

 „Ich schreibe diese Zeilen, damit meine Kinder und Enkelkinder nachlesen können, welche Zeiten es gab und was ihr Vater bzw. Opa erleben musste und durchzustehen hatte. Sie sollen erkennen, zu welchen Unmenschlichkeiten manche Menschen imstande sind.“

Jakob Zahn Rote Armee 1940
Dazwischen liegen 74 Jahre: 
Jakob Zahn als Rotarmist und heute.

Diese Sätze schrieb Jakob Zahn vor knapp 25 Jahren. Sie sind die Einleitung seiner Lebenserinnerungen, zusammengetragen auf mehreren Dutzend DIN-A-4-Seiten, geordnet in zwei Heftern. Sie offenbaren eine sehr bewegte, zum Teil auch recht dramatische Geschichte. Und ein großes Geheimnis, das er viele Jahrzehnte lang selbst vor seiner eigenen Familie verbarg. Jakob Zahn ist heute 96 Jahre alt. Er hört nicht mehr so gut, auch seine Erinnerung lässt ihn manchmal im Stich, dann hilft sein Sohn Reinhold aus. Zahn ist Russlanddeutscher. Aufgewachsen in der damaligen Wolgadeutschen Republik in der Sowjetunion, wurde er 1940 zur Roten Armee eingezogen. Der Überfall Deutschlands 1941 fügte der Sowjetarmee riesige Verluste an Menschenleben zu. Um die Ausrüstung und Kampfmoral der Truppe war es sehr schlecht bestellt, erinnert sich Jakob Zahn. Für ihn kam noch hinzu, dass er Deutscher ist und seine Volksgruppe schon länger unter Stalins Repressalien zu leiden hatte. Schließlich setzte er sich gemeinsam mit drei ebenfalls deutschen Kameraden ab und wurde von Wehrmachtssoldaten aufgegriffen. So wechselte Jakob Zahn die Fronten. Seit dem Zeitpunkt war er als Dolmetscher, Krad-Melder und in der Küche tätig. Die einheimische Bevölkerung, so erzählt er, habe er beim Feldzug der Deutschen immer gut behandelt; die Rassenideologie war ihm fremd. „Ich habe die Menschen immer als Menschen betrachtet.“ Nach Kriegsende wurde er auf dem Weg von Thüringen nach Hessen von der Roten Armee gefangen genommen – was ihn in eine lebensgefährliche Lage brachte: Niemand durfte etwas von seiner Vergangenheit und seiner Desertion wissen. „Dann wäre ich sofort erschossen worden.“ Doch das zu verbergen, war schwierig; dass er Russisch sprach, machte ihn verdächtig. „Die sagten sofort: ,Du bist ein Spion’“, erinnert sich Zahn. Es folgten Gefängnis, nächtliche Verhöre, Schläge. Sein Überlaufen von der Roten Armee zur Wehrmacht bekam niemand heraus, trotzdem wurde der Russlanddeutsche verurteilt: zehn Jahre Haft. Seine Berichte über diese Zeit sind ein Zeugnis der katastrophalen Bedingungen, unter denen die Häftlinge leben mussten: Hunger, Kälte, Läuse, schwere Arbeit, Schikanen, Prügel. Nach fünf Jahren, die er unter anderem in Bautzen und Sachsenhausen verbrachte, kam Jakob Zahn frei. Doch wohin sollte er gehen? In die alte Heimat konnte er nicht, in Deutschland hatte er keine Angehörigen. Schließlich landete er im thüringischen Gotha, weil er dort einen guten Freund aus seiner Zeit bei der Wehrmacht hatte. Hier verbrachte Zahn den Großteil seines Lebens: Er lernte einen Beruf, studierte, heiratete und wurde Vater von drei Kindern. Doch selbst seiner Familie traute er sich nicht, von seinem Schicksal zu erzählen. Zu groß war seine Angst, als Deserteur in ein sowjetisches Lager geschickt oder sogar zum Tode verurteilt zu werden. „Er hat nie viel aus seiner Vergangenheit berichtet“, sagt sein Sohn Reinhold, bei dem er heute in Berlin wohnt. Jahrzehntelang lebte er mit seinem Geheimnis. Erst die in den späten Achtzigerjahren in der Sowjetunion beginnende Perestroika und die Wende in der DDR brachen das Eis. Eine große Last fiel von ihm ab: Jakob Zahn konnte endlich seiner Familie berichten, was ihm widerfahren war. Und nicht nur das: Er schrieb seine Geschichte auch auf. „Er hat seinem Herzen Luft gemacht“, sagt sein Sohn. Anfang der Neunzigerjahre siedelten schließlich viele Verwandte aus Russland nach Deutschland über. Auch in Bremen leben einige von ihnen. Jakob Zahn, so könnte es man fast sagen, hat im Alter seine Familie wiedergefunden.

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